Nach knapp zwei Kilometern beim 10 km-Crosslauf der LG Süd Berlin passierte es. Leidig lief mit der sechs oder sieben Athleten großen Spitzengruppe den Abhang der Zehlendorfer Rodelbahn herunter und sah am linken Rand der Rasenfläche einen Streckenposten mit roter Fahne winken, der noch dazu »Hier lang« rief. Leidig hielt sich links, die Spitzengruppe lief rechts und war weg. Der Streckenposten hatte sich geirrt. Leidig blieb stehen, drehte sich im Kreis, suchte die Strecke und mußte sich hinten im Feld einreihen. Das Mänover verschlang Minuten. Das Rennen war gelaufen.
Trotzdem kämpfte sich Leidig tapfer Platz um Platz nach vorn, da er angetreteten war, um Punkte für die Berlin Cup Wertung zu erobern. Am Ende reichte es in etwas über 36 Minuten für den achten Platz. Selbst die sonst unnachgiebige Mannschaftsleitung fand Worte des Trostes: »Dieses Laufjahr war nicht einfach für ihn, aber er hat in diesem Rennen Haltung bewiesen, hat sich an Fabian Hirt und Marcus Alpen herangearbeitet und knapp zwei Kilometer vor dem Ziel mit einem Angriff am Berg den entscheidenen Abstand erabeitet, um wenigstens Platz 8 zu sichern, obwohl die beiden mit einem fulminanten Endspurt noch einmal alles versuchten.« Noch am Abend trat Präsident George Bush vor die Kameras und versprach, nicht zu ruhen, bevor der unfähige Streckenposten erleidigt ist: »But one of the things for certain is we’re going to get him running and keep him running, and bring him to justice.« Leidig bekannte sich zur Initiative des amerikanischen Präsidenten, jedoch kam kein böses Wort über die schändliche Tat des Streckenposten über seine Lippen: »Es ist ein Gebot christlicher Nächstenliebe, unserer älteren Mitbürger zu gedenken. Der Streckenposten, der mich in die Irre geleitet hat, sicherlich weit über sechzig Jahre, lebt möglicherweise einsam und verlassen von bescheidener Rente. In diesem Alter sind Probleme mit der Prostata üblich, vielleicht wurde sie ihm schon entfernt. Seine Kinder kommen nicht mehr zu Besuch, das Telefon wird abgeschaltet, der Fernseher ist schon lange kaputt. Der Hund tot. Die Heizung fällt aus. Bald stirbt er an einem schmerzhaften Krebsleiden. Keiner trauert um ihn. Das von der Behörde bestellte Urnengrab wird nach zwanzig Jahren aufgelöst. Oder es gelingt seine Festnahme durch Angehörige der US-Streitkräfte, mit anschließender Überführung nach Guantanamo. Auch kein Spaß.« Wie heißt es in Enzensbergers Roman Josefine und ich: »So wenig Sentimentalität. So viel Haltung.«